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[Perspektive Portugal] Valentinstag: Beijinho

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100 Jahre Tradition:
Valentinspostkarte (um 1900)
und einDieser Link ist leider nicht mehr erreichbar,
bestickter Ausdruck von
Gefühl und Verbundenheit

Als die Mutter aus Europas (emotions-)kühlem Norden ihre Tochter besuchte, die nach Portugal gezogen war, wunderte sich Mama erst mal, wenn man Bekannte im Café oder auf Spaziergängen traf oder beim Plausch mit den Nachbarn, warum ihr Kind von so vielen Menschen ein Küsschen bekam. Beijinho hier, beijinho da, manchmal schlicht und schnell, ein anderes Mal mit einer Umarmung verbunden, dann wieder (seltener!) nur angedeutet mit zehn Zentimetern Abstand zwischen Wange und Wange (als wär's der Schicki-Micki-Bussi-Gesellschaft abgeschaut) - so ist das Begrüßungsritual, an das sich Zugezogene rasch gewöhnen. Es ist nicht unangenehm, es sei denn, beim beijinho-Gegenüber war das Parfum/After Shave billig, der Knoblauch überreichlich oder die Zahnpasta ausgegangen.

Beijinhos sind Alltag. Wie also steigert man das am Valentinstag? Der ist ja längst nicht mehr nur der Tag der Verliebten, sondern in erweiterter Funktion auch der Tag der Freundschaft. Ein beijinho allein wäre heute einfach zu wenig.Habt euch alle lieb, aber zeigt es mit mehr als nur einem beijinho – mit kleinen Geschenken, die nach Konsumsteigerung hungernde Wirtschaft wird es euch danken.

In Schaufenstern und Ladenregalen wimmelt es nur so von Herzchen und Küsschen, dass es einem ganz rot vor Augen wird. Und überall schnuckelig zurecht gemachte Stofftiere ab Westentaschenformat bis zu einer Größe, bei der die Anschaffung den Umzug in ein größeres Haus erforderlich macht. Restaurants kreieren Spezialmenus für den Dia dos Namorados. Sonderkonzerte finden statt, Hotels bieten romantische Dinner mit Übernachtung – bis vor wenigen Jahren galt der Valentinstag noch als Erfindung der Floristen. Nun ja, auch die binden heute Extrasträuße.

Ist Portugal das Land, in dem sich der angelogene Valentinstags-Präsente-und-Küsschen-Rausch am schnellsten und weit reichendsten ausgebreitet hat? Lassen wir die Empirik beiseite und sagen: „Gefühlt, ja!“. Das Statistikamt INE hat dazu keine Zahlen, andere Stellen befanden die kollektive Herzchen-Extase allerdings würdig, wissenschaftlich seziert zu werden.
Ganz ohne rosarote Brille haben die S
chweizer Biologin Joelle Apter und die Molekulargenetikerin Tamara Brown erforscht, dass Gefühle nicht zuverlässig sind. Liebesglück entfalte sich erst richtig, wenn Paare in der Genetik ausreichende Unterschiede aufwiesen: „Der oder die Richtige ist es nur, wenn beide biologisch zusammen passen“ – die einzig sichere Methode um festzustellen, ob die Partner kompatible Anlagen besitzen, sei mithin ein DNA-Test, was nun gänzlich unromantisch ist.


Die preiswerteste und allgemein anerkannte Gefühlsdemonstration bleibt der Kuss. Doch Vorsicht: Labiale Zärtlichkeiten können Verpflichtungen nach sich ziehen! Immerhin konnte im Mittelalter mit einem Kuss ein Vertrag besiegelt werden. Das weckt Erinnerungen an die Schmatzer später Reichsverweser wie Honni & Gorbi und ist so wenig stimulierend wie Darwins These, der menschliche Kuss sei nichts weiter als die Evolution präsexueller Beißriten der Primaten. Auch die Botschaft von Wellness-Aposteln, Küssen trainiere 34 Muskeln und verbrenne pro Minute 20 Kalorien, bereitet Amor eine Gänsehaut, die nichts mit niedrigen Februartemperaturen zu tun hat.

Bleiben wir also beim Kuss: Beijar é como beber água salgada; quanto mais se bebe mais a sede aumenta - ein Kuss sei wie Salzwasser, je mehr man trinke, desto größer werde der Durst: Ein Verzeichnis portugiesischer Sprichwörter offeriert auf 500 Seiten ganze fünf Weisheiten zum Zusammentreffen zweier Münder. Das ist eben eine diskrete Angelegenheit.
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„Liebling, dein Geschenk ist da!“
Romantik ist eine Frage des
persönlichen Geschmacks
CARTOON: Paulo António
Und doch: Das Geheimnisvolle scheint abhanden gekommen. Dornröschen ist hellwach, der Prinz küsst per SMS oder Mail, also eigentlich so wie auch an jedem anderen Tag: Der Softwarekonzern Microsoft hat mal eine Umfrage gemacht (bei der übrigens mehr Männer als Frauen antworteten), aus der hervorging, dass jeder zweite Portugiese täglich via E-Mail Liebesbotschaften verschickt. Von diesen hat jeder Fünfte das elektronische Medium benutzt, um seine Passion überhaupt zu gestehen. Und knapp ebenso viele schreiben sich Dinge, die Microsoft diskret als sehr intim und privat bezeichnet.

Küssen ist globale Sitte und Symbol. Kirchenväter warnen gelegentlich davor, Madonnenstatuen zu küssen: Bei so vielen Jüngern herrsche Infektionsgefahr. Anthropologen schätzen, dass sich neunzig Prozent aller Menschen küssen, wobei die Bussi-Dramaturgie variiert. Asiatische Knutschtechniker haben im Kamasutra über dreißig verschiedene Küsse aufgeführt. Graf Dracula kannte genauso viele Kusstechniken. Japaner lieben Küsse an einsamen Stränden – Portugals Tourismusverbände könnten aus dieser Erkenntnis ganz neue Marketing-Strategien entwickeln.

Abschieds- oder Begrüßungskuss, Gutenachtkuss, Handkuss, Pustekuss – jeder von ihnen soll, wenn er denn auf echtem Gefühl beruht und nicht als geheuchelte Nettigkeit daherkommt, den IQ kurzfristig um 100 Punkte senken, dafür aber glückliche Menschen schaffen. Und das gut 100.000 Mal im Leben mit einer Durchschnittsdauer je Kuss von über zwölf Sekunden.

Kein Film ohne Kuss. Einer der ersten Streifen der Kinogeschichte bestand 1896 aus einer einzigen Kussszene und hieß demzufolge „The Kiss“. William Heises erotisch unterbelichtetes Kinostück galt als Pornografie – und das Publikum war begeistert. Hundertfünfzig Jahre zuvor wurde der Kuss als beliebtes Spielzeug für gesellschaftliches Amüsement eingesetzt. Dank der Erfindung elektrostatischer Generatoren hatten die Salons der Oberschicht jener Zeit eine Empfangsdame, die an eine Elektrisiermaschine angeschlossen wurde: Sie begrüßte Gäste mit einem Funkenkuss.
Was am Valentinstag auf keinen Fall dazu gehört, ist ein Judaskuss: Bitte nur ernst gemeinte mündliche Bekundungen, verbal wie labial. In diesem Sinne: Beijinho!

P.S.: Wer heute nicht genug bekommt: In Brasilien feiert man den Tag der Verliebten am 12.Juni.
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